M. Lauener: Jeremias Gotthelf – Prediger gegen den Rechtsstaat

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Titel
Jeremias Gotthelf – Prediger gegen den Rechtsstaat.


Autor(en)
Lauener, Michael
Reihe
Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 64
Erschienen
Zürich 2011: Schulthess
Anzahl Seiten
537 S.
Preis
URL
von
Rolf Graber

Neben Gottfried Keller würden wohl die meisten Schweizerinnen und Schweizer Jeremias Gotthelf zu den bedeutendsten Schweizer Dichtern des 19. Jahrhunderts zählen. Weniger bekannt ist, dass Gotthelf zur Zeit der Bundesstaatsgründung äusserst unpopulär war. In der politischen Öffentlichkeit wurde er als religiöser Eiferer wahrgenommen. Grund für diese Abneigung war seine Polemik gegen prominente Vertreter des Liberalismus und gegen die liberale Rechtsstaatsidee. Die politische Brisanz von Gotthelfs Haltung wurde allerdings lange Zeit ausgeblendet und tabuisiert. Die von Prof. Dr. Marcel Senn betreute Dissertation von Michael Lauener hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Widersprüchen nachzugehen und die Forschungsdefizite aufzuarbeiten. Als Hintergrundfolie für das Verständnis von Gotthelfs Kritik der entstehenden Rechtsstaatsidee sieht Lauener dessen Vorstellung vom «christlichen Staat». Eine detailreiche Aufarbeitung der komplementären Interpretationslinien steht im Zentrum der umfangreichen Arbeit. Als Quellengrundlage dienen Gotthelfs sämtliche Werke, besonders dessen letzter Roman «Erlebnisse eines Schuldenbauers» mit dem ursprünglichen Titel «Hans Joggi und der Rechtsstaat» von 1852/53.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. In der ausführlichen Einleitung werden sowohl die literaturwissenschaftliche Gotthelf-Forschung als auch die rechtswissenschaftliche und rechtshistorische Literatur akribisch aufgearbeitet, um gegenseitige Rezeptionsdefizite im Hinblick auf die gewählte Aufgabenstellung offenzulegen. So werden etwa von der Forschung wenig thematisierte Rezeptionsstränge aufgezeigt, wie zum Beispiel die Instrumentalisierung von Gotthelfs Kampf gegen den Rechtsstaat durch nationalsozialistisch orientierte Juristen wie Franz Oswald und Carl Schmitt.

Der zweite Teil zeichnet Gotthelfs Kritik an der Rechtsstaatsidee nach. Dieser sieht in Wilhelm Snells Staatsvorstellung, die durch die Rechtsphilosophie Kants geprägt ist, die «legale Sanktion der Selbstsucht» und das «zerstörende Element der menschlichen Gesellschaft». Der liberale Staat erscheint Gotthelf als «Wucherstaat» in dem das Recht des Stärkeren und die Übervorteilung des Schwächeren vorherrschen. Aus dieser Perspektive vermag Gotthelf soziale Probleme wie Armut, Hunger, Verschuldung und Alkoholismus klarer zu erkennen als seine liberalen Zeitgenossen, und er entwickelt sich zum «Chronisten des Alltags». Er zeigt Entwicklungen auf, die durch die Entfeudalisierung und Privatisierung des Eigentums, durch wirtschaftliche Liberalisierung und Deregulierung sowie die zunehmende Marktorientierung entstanden sind. Die Rezeption dieser ökonomischen Entwicklungen durch Gotthelf wird etwa an Beispielen wie Kornwucher, Holzhandel, Ablösung der alten Gült durch leicht kündbare Darlehen, Loskauf der Grundlasten, Güterspekulation und Kreditmangel aufgezeigt. Ein anschauliches Bild bietet die Forstwirtschaft. So erkennt Gotthelf nicht nur die sozialen Auswirkungen des Holzhandels und der Privatisierung der Wälder, sondern auch die ökologischen Folgekosten. Die sich öffnende soziale Kluft zwischen Rechtsamebesitzern und Rechtsamelosen ist ihm nicht entgangen, dem Widerstand der wirtschaftlichen Verlierer vermag er allerdings nichts abzugewinnen, er wird als Werk von demagogischen Volksaufwieglern verurteilt. Ebenso wird das Freizeitund Konsumverhalten der unteren Gesellschaftsschichten, der Besuch von Märkten, Wirtshäusern und Tanzveranstaltungen als «Hudelkrankheit» kritisiert. Gotthelfs eindringliche Warnungen vor dem Sittenzerfall reflektieren dessen Beurteilungsmassstab, die ökonomischen und sozialen Entwicklungen werden nach moralischen Kategorien bewertet und als Verfall der christlichen Tugend interpretiert.

Im dritten Teil wird der Gegenentwurf Gotthelfs zur liberalen Rechtsstaatsidee vorgestellt. Grundlage ist nicht Kants Rechtsphilosophie, sondern die Referenz auf göttliches Recht und die christliche Nächstenliebe. Anknüpfend an Polybios kritisiert Gotthelf die Unvollkommenheit der menschlichen Gesetze und sieht das christliche Recht als Richtlinie und Ziel. Das «Civilgesetzbuch für Stadt und Republik Bern» von 1824 entspricht teilweise noch dieser Hoffnung auf einen «christlichen Staat», einerseits, weil es auf christlich-reformatorischen Satzungen wie etwa dem Emmentaler Landrecht basiert, andrerseits, weil es nach Gotthelfs Meinung zum Sturz des Patriziats beigetragen hat, eine Ansicht die auch lange durch die Forschung vertreten wurde, durch neuere rechtshistorische Studien jedoch widerlegt worden ist. An Gotthelfs Beurteilung des «Civilgesetzbuches» und dessen Kritik am Patriziat vermag Lauener aufzuzeigen, dass dieser nicht einfach die Wiederherstellung der Zustände des Ancien régime intendiert und es sich beim Staatskonzept nicht nur um eine rückwärtsgewandte Utopie handelt. In diametralem Verhältnis zur Idee des «christlichen Staates» steht nach Gotthelf allerdings die in der Berner Regenerationsverfassung von 1831 angelegte Säkularisierung. Badener Artikel, Klosteraufhebung, Freischarenzüge und die Niederlage der Katholiken im Sonderbundskrieg verstärken Gotthelfs Frontstellung gegen die Liberalen und den liberalen Rechtsstaat, sie kommt in Vorwürfen und verbalen Ausfällen gegen führende Vertreter der Gegenpartei zum Ausdruck. Besonders ins Visier gerät die Berufsgruppe der Juristen, was mit dem Verlust der Führungsrolle des Pfarrers zu tun hat, eine Entwicklung, die Gotthelf selbst zu spüren bekommt. Um der zunehmenden Säkularisierung entgegenzutreten, befürwortet er sogar eine christliche Allianz mit den gemässigten Katholiken gegen die kirchenfeindlichen Radikalen und die papsttreue katholische Amtskirche.

Insgesamt legt Michael Lauener eine facettenreiche Studie zum Thema vor, die auf minutiösen Quellen- und Literaturstudien beruht. Durch komparatistische Gegenüberstellung von Wilhelm Snells Rechtsstaatsidee und Gotthelfs Vision eines «christlichen Staates» vermag er zwei Traditionen der «Staatsgewaltstheorie» sichtbar zu machen und die Konturen von Gotthelfs Kritik schärfer herauszuarbeiten. Beeindruckend sind die Literaturkenntnisse des Autors, die Fülle des ausgebreiteten Materials, die geistes- und religionsgeschichtlichen Kontextualisierungen
sowie die enzyklopädische Breite der Arbeit, die stellenweise eher den Charakter eines Nachschlagewerks annimmt. Mitunter erscheint der Hang zum

Detail allerdings als übertrieben, was sich in einem hypertrophen Anmerkungsapparat äussert. Um nachzuweisen, dass die Literatur einen hohen Stellenwert als historische Quelle hat, werden etwa auf zehn Seiten Namen von Historikern aufgezählt, der Text besteht jeweils aus zwei bis vier Zeilen und der Rest aus Anmerkungen mit Literatur- und Textnachweisen (S. 108–118). Auch die Gliederung in zahlreiche, teilweise zu kurze Unterkapitel (etwa aus einem Zitat bestehend), die vielen Exkurse zur Sekundärliteratur und einige inhaltliche Wiederholungen sind der Lesbarkeit nicht förderlich und hemmen den Duktus der Argumentation.

Spannende Einsichten bieten jedoch jene Passagen, in denen Gotthelfs Kritik an den ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen quellennah nachgezeichnet wird. Diese Kritik liesse sich gleichsam als Dekonstruktion der liberalen Meistererzählung und Fortschrittseuphorie lesen, eine Perspektive, die den rein rechtshistorischen Ansatz transzendiert hätte. Eine Einbettung der Positionen Gotthelfs in den Kontext der Modernisierungsdebatte und damit eine weitere Ausweitung der Beobachtungsdimension wäre in Anknüpfung an aktuelle Diskussionen wünschenswert gewesen.

Zitierweise:
Rolf Graber: Rezension zu: Michael Lauener: Jeremias Gotthelf – Prediger gegen den Rechtsstaat. Zürich/Basel/Genf, Schulthess, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 144-146.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 144-146.

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